Storytelling – alles nur ein großes Missverständnis?

Der Marketing-Hype im Realitätscheck

Neulich war Robert McKee bei need.digital zu Gast, um uns mit einem Vortrag etwas aus der Corona-Schockstarre wachzurütteln.*

McKee ist ein „Screenwriting-Guru“. Der Titel seines erfolgreichsten Buches erzählt, womit er sich in Hollywood einen Namen gemacht hat: „Story.“ Wer vorhat, ein Drehbuch zu schreiben, sollte erst einmal eines seiner legendären „Story“-Seminare besuchen. Danach weiß man, wie’s geht. Oder jedenfalls weiß man, wie’s besser ginge.

In dem Film „Adaptation“ von Charlie Kaufman hat McKee einen (vom Schauspieler Brian Cox hingelegten) Auftritt als knallharter Drehbuch-Coach, der in seinen Vorträgen (und am Tresen) mit keiner Wahrheit hinterm Berg hält. Das hat seinen Mythos noch einmal zusätzlich beflügelt.

Wenn die Werbung tot ist, was bin dann ich?

Es gibt vermutlich wenig, was McKee nicht über Storys weiß, und das vermutlich hat Thomas Gerace, den CEO von Skyword – einem Unternehmen, das angetreten ist, um andere Unternehmen mit Content und großartigem Storytelling zu versorgen –, dazu veranlasst, mit ihm zusammen ein Buch zu schreiben: „Storynomics“, Untertitel: „Story-Driven Marketing in the Post-Advertising World“.

Dieser Untertitel macht im Vorbeigehen eine Aussage, die eigentlich ein eigenes Buch verdient hätte: Wir befinden uns in der Welt nach der Werbung, wie es eine Welt nach dem Untergang der Menschheit gibt. Was gleich die Frage aufwirft: Welches ist die größere Katastrophe? Nun, zumindest gibt es eine gute Nachricht für alle, die ihrem Weggefährten seit Kindheitstagen, der Werbung, nachtrauern: Die blöde Werbung ist nur gestorben, um dem smarten Storytelling den Weg freizumachen.

Das klingt natürlich hervorragend. Es klingt big and strong. Es klingt nach einem Riesenbatzen Unterhaltung. Statt Persil-Geseife James-Bond-Filme. Wow. Okay. Lasst uns die Ärmel hochkrempeln und Storys tellen. Oder?

Es gibt ein klitzekleines Problem: die Praxis. Denn die Best Practices für Storytelling im Marketing, die McKee und Gerace anführen, sind insgesamt wenig überzeugend, auf keinen Fall wirken sie sonderlich inspirierend. Man erfährt, dass Jeff Bezos bei Amazon keine Bulletpoint-Präsentationen will, sondern ausformulierte Sätze. Weil dieses Ausformulieren ein Durchdenken notwendig macht und damit zu einem vertieften Verständnis führt.

Manfred Spitzer, der seit Jahren vor der digitalen Verblödung warnt, würde vermutlich keine Einwände erheben.

Aber: Ist das Storytelling? Ist es nicht eher simples Nachdenken? Gründliches Durchdenken eines Sachverhalts?

Das „Love Boat“ mit den drei Streifen

Tatsächlich erweist das Storytelling sich als Schlawiner. So richtig ernst kann man seine Selbstbeweihräucherungen nicht nehmen. Dafür kommt unter dem Strich einfach zu wenig Zählbares heraus.

Einer der erfolgreichen Business Cases aus „Storynomics“, in denen Storytelling eine Vermehrung des Jahresgewinnes um 9.00 Prozent bewirkt hat, ist die Geschichte von „Love Boat“, der US-amerikanischen Originalvorlage des deutschen „Traumschiffs“. Und zwar hatte sich 1975 Britain’s Peninsular and Oriental Steam Navigation Company, kurz: P&O, sich mit dem Produzenten Aaron Spelling zusammengetan, um auf dem Schiff „Pacific Princess“ Gaststars an exotischen Schauplätzen wild-lustige Sachen erleben zu lassen.

Die Serie war ein voller Erfolg und trug massiv zur Popularisierung von Kreuzfahrten auf dem US-amerikanischen Markt bei.

„Wenn ich der Held in meinem Storytelling-Video bin – wer ist dann der Schurke?“

Nur ist das halt kein Storytelling aus dem Marketing. Aaron Spelling war vermutlich der erfolgreichste Film- und Fernsehproduzent überhaupt. Auf dessen Erfolgsexpress ist eine Kreuzfahrt-Gesellschaft aufgesprungen. Die Marketingleute haben den kreativen unternehmerischen Geist eines Großen für ihre Zwecke ausgeschlachtet. Genau wie Adidas mit jedem Tor, das Maradona zauberte, ein Paar Fußballschuhe mehr verkaufen konnte. (Obwohl Maradona manchmal ja auch die Hand zu Hilfe nahm.)

Das Leben erinnert man als Story, nicht als Daten

Auch wenn das Storytelling also vielleicht ein klein wenig überschätzt und überbewertet wird, haben Thomas Gerace und Robert McKee natürlich trotzdem einen Punkt: Werbung ist nur zu oft einfach ein Entertainment-Killer, ein unliebsamer Störenfried. Viel zu selten wird versucht, den schönen Ehrgeiz Jean-Remy von Matts, des Co-Founders der Werbeagentur Jung von Matt, Wirklichkeit werden zu lassen. Der formulierte einst überspitzt: Sein Traum sei es, dass die Leute den Fernseher einschalten, um die Werbung zu sehen. Und nicht das Programm.

Insofern könnten wir den „Storynomics“-Claim auch auf unsere Fahnen drucken lassen: „Don’t interrupt. Entertain.“


* Okay, gut: Wir haben uns eines seiner Bücher besorgt.

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Robert Mattheis