Seven Basic Plots (1): Das Ding auf der Kundentoilette

Die erste Frage, die uns gestellt wird, wenn wir mit Kunden über ein Imagevideo sprechen: Auf welchen der „Seven Basic Plots“ wollen wir uns bei unserem Ansatz stützen?

Dabei leuchten die Augen unserer Gesprächspartner ganz hell, voller Begeisterung, voller Erwartung – mit Einsprengseln von Angst, weil man ja natürlich nie weiß, wenn man es mit Filmkünstlern zu tun bekommt, womit man letztlich zu leben hat; vor allem im Erstgespräch ist die Unsicherheit verständlicherweise groß.

Kurz zur Erläuterung: Der Journalist und Autor Christopher Booker hat ein oft zitiertes Buch geschrieben, „The Seven Basic Plots“. Darin verleiht er seiner Überzeugung Ausdruck, auf 736 Seiten (Bloomsbury UK, 2006), dass man alle Geschichten, die Menschen sich erzählen, seit wir den zweibeinigen Gang für uns entdeckt haben, in ein Raster mit sieben Fächern einteilen könne.

Dazu gleich mehr.

Jetzt sind wir erst einmal bei dem mittelständischen Unternehmen Haubenpfeiffer zu Gast. Ein klassischer Hidden Champion, Weltmarktführer bei irgendwelchen Elektronikteilen (mit den Details dürfen sich später die Konzepter herumschlagen), der Firmensitz mitten im Grünen gelegen. Alles sehr friedlich, still, architektonische Spitzengastronomie. Man fühlt sich sofort wohl.

Der Chef, Sigmar Schemp, ist ein zurückhaltender, intelligenter Typ. Sofort sympathisch. Nachdem die Frage der Seven Basic Plots kurz angerissen wurde, fragt er geradeheraus:

„Meinen Sie, die ‚Überwindung des Monsters‘ käme für uns in Frage?“

„Wie kommen Sie denn gerade auf DAS Genre?“

Nando, unser Filmregisseur, hat natürlich schon einige skurrile Fragen auf dem Buckel. Entsprechend cool blickt er drein. So cool wie seine Lederjacke. Trotzdem — wenn man ihn lange genug kennt, merkt man, dass auch ihn dieser Vorstoß überrascht.

„Es ist nur“, sagt der Chef von Haubenpfeiffer mit einem unsicheren Lächeln, „‚Der weiße Hai‘ war immer mein Lieblingsfilm.“

Nando hebt die rechte Augenbraue: „‚Der weiße Hai‘?“

„‚Jaws'“, sage ich. „Ah“, macht Nando. Für den Kunden füge ich als Erklärung hinzu: „Filmleute benutzen immer nur die Originaltitel.“

Sigmar Schemp ist überrascht. „Auch bei, sagen wir, ungarischen Filmen?“

„Natürlich“, sagt Nando Dietz. „A Torinói ló.“

„Meine Güte!“, lacht Schemp. „Das könnte ich noch nicht mal aussprechen, geschweige denn buchstabieren! Was ist das für ein Film?“

Nando Dietz sieht zu mir herüber. Er weigert sich konsequent, deutsche Filmtitel zu benutzen, wenn die Filmproduktion keine deutsche ist.

Alles original. Das ist sein Motto.

„Übersetzt ist das ‚Das Turiner Pferd'“, erkläre ich. „Ein ungarischer Kunstfilm.“

„Interessant. Hat das mit Nietzsche zu tun?“, schaltet sich der Marketingtyp ein, der sich bislang aufs Zuhören und Nicken beschränkt hat. Es ist ein blonder, breitschultriger Geselle mit runden Brillengläsern und trotz seiner noch jungen Jahre schütter werdendem Haar.

„Nietzsche?“

„Na, der hat doch in Turin ein Pferd umarmt, um es vor den Schlägen eines Droschkenkutschers zu schützen.“

Verblüfftes Schweigen macht sich im Besprechungsraum breit.

Der Marketingtyp läuft rot an. „Ich hab ein paar Semester Philosophie studiert“, murmelt er verlegen.

Sein Chef klopft ihm auf die Schulter. „Ist doch keine Schande, ein bisschen gebildet zu sein“, sagt er aufmunternd, aber man hört doch hindurch, dass er das Gegenteil dessen meint, was er sagt.

Das Gespräch läuft weiter, unter anderem bringt Nando kurz das Thema Kosten auf („Ich bitte Sie“, winkt der Chef von Haubenpfeiffer generös ab, „das ist nun wirklich schade um die Zeit!“), dann erörtern wir mögliche Drehorte und Besetzungen. Irgendwann flüstert mir Stefan, einer unserer Kameramänner, ins Ohr: „Ich müsste mal aufs Klo.“

„Klar, kein Ding“, sage ich, und Stefan verdrückt sich schnell.

Wir reden weiter. Ich bemerke, dass der Marketingtyp, der Stefans Abgang mit scharfem Blick verfolgt hat, nervös wird. Je länger Stefan ausbleibt, desto nervöser wird er. Irgendwann fährt er auf relativ rüde Art mitten unter die sehr geordnet vorgetragenen Redebeiträge, indem er heiser ruft: „Ich hoffe nur, er ist nicht auf die Kundentoilette gegangen!“

Der Chef sieht ihn überrascht an. „Wer?“

„Na, der …“ Er zeigt mit dem Finger in die Richtung unserer Filmcrew (mit dabei sind u. a. die Beleuchter, der Ton, das Skriptgirl, die Maske, Heidi von der Continuity …).

Sigmar Schemp ist auf den Füßen, bevor das „der“ ausgesprochen ist. „Wer ist auf die Kundentoilette gegangen?“, bellt er. Und schreit von oben seinen Marketingmann an: „Wie kannst du ihn auf die Kundentoilette gehen lassen, verdammt? Bist du von Sinnen?“

„Aber, ich hab doch …“

Schon ist Sigmar Schemp davon, weggesprungen, losgerannt, in Richtung der Tür, hinaus auf den Flur. Dort werden seine Schritte im Davonrennen paradoxerweise immer lauter, statt leiser.

„Was hat er denn?“, fragt Nando ungläubig. Niemand von uns kann sich einen Reim auf die Szene machen. Ein camera guy geht auf die Toilette, und alle drehen durch? Die Filmbranche ist für exzentrisches Gebaren berechtigterweise berühmt, aber das hier ist selbst für Hollywood-Maßstäbe vermutlich außergewöhnlich.

Mit einem Mal erklingt draußen, irgendwo in den Tiefen des Haubenpfeiffer-Gebäudes, ein Schrei. Es ist ein Schrei, den man nur schlecht beschreiben kann. Belassen wir es hierbei: Ich wünsche Ihnen, dass Sie Derartiges nie hören müssen! Wenn die tiefste menschliche Verzweiflung, unüberwindliche Not, die Pein einer verlorenen, verdammten Seele Klang werden können – dann ist es in diesem Fall geschehen.

Das nur, um Ihnen einen ungefähren Eindruck zu vermitteln.

Der Marketingtyp sitzt bleich da, in sich hinein gesunken, langsam schüttelt er den Kopf. Er tut einem Leid, allein vom Betrachten. Denn da sitzt ein Mensch, dem gerade seine ganze Existenz zertrümmert worden ist.

„Verdammte Scheiße“, murmelt er, „verdammte Scheiße …“


Anhang: Die Seven Basic Plots nach Christopher Booker in der Übersicht:

1. „Overcoming the monster“: Die Überwindung des Monsters.

2. „From rags to riches“: Vom Tellerwäscher zum Millionär.

3. „The quest“: Die Mission.

4. „Voyage and return“: Reise und Rückkehr.

5. „Comedy“: Komödie.

6. „Tragedy“: Tragödie.

7. „Rebirth“: Wiedergeburt.

Robert Mattheis