„Das Problem ist“, sagte ich, die Füße auf meinen Schreibtisch legend, wie ich es bei Raymond Chandler und seinen billigen Nachahmern gelernt hatte: „Für einen Texter ist der Kunde der Regisseur. Er muss mir sagen, was ich spielen soll. Ich kann mir dann schon den Text ausdenken, klar, das improvisiere ich dann, das ist mein Job. Ich suche mir die Stichwörter aus dem Netz zusammen, kein Thema, kein Ding. Aber ich muss wissen: Was soll ich für meinen Kunden spielen? Wie will er es haben? Laut? Leise? Lustig? Frech? Sie können Gene Hackman ja auch nicht einfach ein paar Textzeilen in die Hand drücken und sagen: ‚Jetzt spiel mal!‘ Sie müssen ihm sagen, was er spielen soll, wie er die Szene anlegen soll, welcher Effekt beabsichtigt ist usw.“
In diesem Augenblick veranstalteten die Bauarbeiter draußen ein Mordsspektakel, und ich überlegte ganz ernsthaft, ob ich das Fenster schließen sollte. Immerhin war das hier ein Interview. Mit dem renommierten Branchenblatt „Werben & Verkaufen“, im Volksmund bekannt als „die W&V“.
„Das schnallen die meisten Kunden nicht“, sagte ich. „Ich Regisseur? Sie denken, sie seien nur ganz harmlose Arbeitstiere, einfache Leute, die ihren Job machen, und weil sie ihn toll machen, denken sie sich, sollen Idioten wie wir verdammt noch mal für sie die Drecksarbeit … KJ!“, schrie ich. Ich hatte mein Schreibtischfach geöffnet. Gähnende Leere grinste mich an. „Wo hast du meinen BOURBON versteckt?“
Der Kollege vom Branchenblatt im Auflagensinkflug zuckte zusammen.
KJ tauchte in der Tür auf. „Du sollst nicht so viel saufen“, sagte sie. Sie warf dem W&V-Heini einen Seitenblick zu. „Zumindest nicht am Vormittag. Ansage vom Chef.“
Ich schüttelte den Kopf, den Journalisten angrinsend. „Können Sie das glauben? Wie weit ist es mit unserer Branche gekommen? Ist das nicht traurig?“
„Dieser Nando“, fragte der Reporter. Er benutzte tatsächlich einen Bleistift. Ob er mich damit einschüchtern wollte? „Kann ich den auch mal interviewen?“
„Nando ist irgendwo da draußen“, sagte ich. Ich wedelte mit der Hand die Nürnberger Stadtkulissen weg, um den Blick auf das Umland frei zu machen. „Filmt Leute dabei, wie sie sich Weisheiten aus der Nase popeln. Oder wie sie auf ihren Computerbildschirm glotzen. Jetzt frage ich Sie mal was: Ist das Storytelling?“
Ich hob dabei eine Augenbraue. Fragend.
„Äh, ja?“, antwortete der W&V-Mann. Er war sichtlich verunsichert.
„Denken Sie, Joseph Campbell wäre zufrieden mit Ihrer Antwort?“ Ich stand auf. „Möchten Sie auch ein Bier?“
„Danke, ich trinke keinen Alkohol.“
Da musste ich mich gleich wieder setzen.
„Sie tun WAS?“
„Wer ist Joseph Campbell?“
„Der Typ, der die Heldenreise erfunden hat. Den erfolgreichsten McGuffin der Welt.“
Der W&V-Scherge guckte langsam leicht verzweifelt. Er war vielleicht 25 Jahre alt. Ich erinnerte mich, wie ich mich als junger Mann gefühlt hatte. Manchmal ist es einfach erbärmlich, was man so durchmacht. Ich schämte mich für mich selbst. Aber was sollte ich tun? Es gibt ein Machtgefälle in der Welt, und seine Energie ist gnadenlos. Wenn Sie andere Erfahrungen gemacht haben, lassen Sie es mich wissen.
„Was ist nun wieder ein McGuffin?“, wollte der Jüngling wissen.
Mein großer Moment war damit gekommen. Und ich kostete ihn aus:
„Ein Mann kommt in ein Eisenbahnabteil“, sage ich. „Er legt ein Paket oben in die Gepäckablage. Da fragt ihn der, der ihm gegenübersitzt: ‚Was haben Sie da in dem Paket?‘ – ‚Oh‘, sagt der Erste, ‚einen McGuffin!‘ – ‚Was ist ein McGuffin?‘ – ‚Ein Apparat, um Löwen im schottischen Hochland zu fangen.‘ – ‚Es gibt keine Löwen im schottischen Hochland‘, sagt der andere irritiert. – ‚So?‘, gibt der Mann mit dem Paket zurück. ‚Dann ist es auch kein McGuffin!'“
Dem Reporter entgleisten die Gesichtszüge. „Was ist das für ein kompletter Quatsch?!“
„Das ist eine Geschichte, die Hitchcock erzählt hat. Und zwar niemand Geringerem als François Truffaut. Während der Interviews, aus denen das Buch ‚Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?‘ entstanden ist. Sie sollten vielleicht mal einen Blick reinwerfen. By the way: Wird das hier auch ein Buch?“
„Alles schön und gut. Aber was soll diese Geschichte von Hitchcock mir sagen?“
„Es gibt keine Heldenreise“, sagte ich. „Machen Sie sich auf die Heldenreise, und Sie kommen nie zurück. So einfach ist es. Sie marschieren ins Leere. Bon voyage!“
„Aber wenn es keine Heldenreise gibt – wie können wir dann je hoffen, etwas mit Storytelling zu verkaufen?“
Ich grinste. „So langsam fangen Sie an zu verstehen, scheint mir …“
„Sie meinen, das wahre Storytelling – das ist das, was in meinem Gehirn passiert?“
„Die inspirierendsten Bilder sind die, die man nie sieht“, sagte ich und stand auf.