Deconstructing David, oder: Jede Geschichte hat auch eine wahre Seite

Als erfahrene Storyteller wissen wir: Wichtig ist nicht nur die Geschichte, die man erzählt; mindestens genauso wichtig ist die Geschichte, die man NICHT erzählt.

Um das zu verdeutlichen, haben wir uns, damit es nicht zu langweilig und theoretisch wird, eine der bekanntesten Geschichten herausgesucht. Eine, die sogar zu einem Sprichwort geworden ist.

Sie geht so: Ein junger Schäfer, im Grunde noch ein Kind, komplett kampfunerfahren, tritt gegen einen der Superkämpfer der Antike an – gegen einen Kerl namens Goliath, der vor ihm in seiner sonnenfunkelnden Rüstung aufragt wie ein Turm aus Eisen.

Nicht nur, dass Goliath, im Gegensatz zu David, ein Berg von einem Mann ist und darüber hinaus ein erfahrener Soldat. Nein: Alles, was der Bengel der modernen Kriegsausrüstung seines Feindes entgegenzusetzen hat, als er in die Arena tritt, sind eine Schleuder und fünf Steine.

Die historische Ausgangslage war folgende:

Rund um das Tal von Elah stehen sich die Truppen der Philister und der Israeliten gegenüber. Die beiden Völker befinden sich im Krieg. Es geht, wie immer, um Land. Beide Armeen haben auf gegenüberliegenden Bergen Aufstellung bezogen. Zwischen ihnen liegt das Tal von Elah. Niemand will als Erster in die ungeschützte Niederung hinabsteigen, um sich dort von den sicheren Berghängen aus abschlachten zu lassen. Eine militärische Pattsituation ist entstanden.

In dieser Situation platzt dem alten Goliath, dem Veteranen unzähliger Schlachten, endlich der Kragen. Er stampft mit dem Fuß auf und marschiert, eskortiert von einem Jungen, ins Tal. „Wer nimmt es mit mir auf?“, ruft er den Israeliten auf ihrer Höhe herausfordernd zu.

Und dann kommt eben David anmarschiert, nur mit seinem Schäferstab bewaffnet. König Saul hatte ihm seine Rüstung angeboten, aber David hatte freundlich abgelehnt. Er vertraut auf die Waffen seines Glaubens. Welche Rüstung könnte mächtiger sein als der Beistand Gottes?

Der fürchterliche Riese ist beleidigt, als er seinen Kontrahenten erblickt: „Bin ich ein Hund, dass du mit Stöcken gegen mich antrittst?“

Der Rest ist buchstäblich biblisch: David nimmt einen Stein, legt ihn in seine Schleuder, wirbelt das Ding herum – und knallt dem Feind das Geschoss direkt zwischen die Augen.

Goliath kippt um, David schnappt sich sein Schwert und haut ihm den Kopf ab.

K. o. durch Enthaupten.

Die Philister ergreifen die Flucht.

Ende der Geschichte.

Ende der Geschichte?

Anfang der Analyse!

Reden wir zuerst über David, den harmlosen kleinen Bengel. Der kam nur mit einer Schleuder bewaffnet, das ist wahr. Aber diese Schleuder war beileibe kein Kinderspielzeug, sondern eine tödliche Waffe, eine Ledertasche an zwei langen Schnüren. Damit herausgeschleuderte Projektile erreichten Geschwindigkeiten von bis zu 35 Metern pro Sekunde.

Die Steinschleuderer gehörten damals zur Artillerie. Sie waren die Scharfschützen der Antike. Auf 200 Meter töteten sie ihre Gegner. Sie schossen Vögel im Flug aus der Luft.

Hinzu kommt, dass die Steine im Tal von Elah eine extrem hohe Dichte aufweisen. Das bedeutet, dass David für sein Duell das Äquivalent von .45er-Munition zur Verfügung stand.

Im Lichte dieser historischen Erkenntnisse müssen wir die Geschichte von David ganz neu deuten:

Da war kein harmloser Junge, dessen wahllos geschleuderter Stein von einer göttlichen Hand zielgenau zwischen die Augen eines Feindes Israels gelenkt wurde. Diese Hilfe hatte David gar nicht nötig. Er war ein Spezialist des Tötens. Er hatte sein Handwerk in der Verteidigung seiner Schafherde gegen Löwen und Wölfe gelernt. Hart gesagt, war er ein ausgebildeter, eiskalt operierender Sniper.

Man könnte die Geschichte also auch so erzählen: David knallt Goliath einfach ab, den schwer bepackten, kranken, gegen die moderne Waffe machtlosen Ritter. Er tut es eiskalt, aus nächster Nähe.

Denn betrachten wir jetzt auch einmal Goliath genauer. Warum wird er auf den Kampfplatz geführt? Wozu braucht er, der gefährlichste Krieger seiner Zeit, ein Baum von einem Mann, als Begleiter einen Jungen?

Und: Warum wird ausdrücklich erwähnt, dass Goliath sich sehr langsam bewegte?

Eine weitere Auffälligkeit: Wieso dauert es so lange, bis der Riese erkennt, dass sein Gegner nur mit einem Stock bewaffnet gegen ihn antritt und nicht, wie zu erwarten wäre, in kraftstrotzender Rüstung? Mehr noch, warum spricht Goliath von „Stöcken“, wo David doch nur mit einem Hirtenstock ausgerüstet ist?

1960 fingen die Mediziner an, nach Antworten auf diese Fragen zu suchen. Wie die Historiker im Falle Davids setzten sie die Puzzleteile zusammen. Ihre schlussendliche Diagnose: Goliath litt an Akromegalie, an Riesenwuchs. Dieser wird ausgelöst durch einen gutartigen Tumor, der auf die Hypophyse (Hirnanhangsdrüse) drückt und sie damit unkontrolliert Wachstumshormone ausschütten lässt. Der größte Mensch aller Zeiten, Robert Wadlow, litt an dieser Erkrankung. Er wurde ungeheure 2,72 m groß. Aber: Er starb auch schon mit 22 Jahren. Denn Akromegalie hat viele unangenehme Begleiterscheinungen.

Eine davon zeigt Goliaths Tapsigkeit. Jemand, der an Riesenwuchs leidet, ist in seinen Bewegungsmöglichkeiten radikal eingeschränkt.

Eine weiteres negatives Symptom: Sehstörungen, ausgelöst durch den Tumor, der auf das Sehzentrum drückt. An Akromegalie Leidende sind deshalb oft sehr kurzsichtig, manche sehen sogar doppelt – beides scheint auf Goliath zuzutreffen. Deshalb nämlich erkennt er erst so spät, dass David keine Rüstung trägt. Und deshalb glaubt er, David habe zwei Stöcke als Waffen dabei.

Die Geschichte hinter der Geschichte könnte man also so zusammenfassen: Ein in seinen Bewegungsmöglichkeiten radikal eingeschränkter Halbblinder, der einen fairen Zweikampf erwartete, wurde auf tödlich kurze Distanz von einem Scharfschützen abgeknallt.

Die Geschichte, die wir kennen, stellt die Geschichte, die sich zutrug, letztlich also auf den Kopf. Zugleich aber ist die Geschichte hinter der Geschichte auch bewegender als die Geschichte selbst. Finde ich zumindest.

Jetzt kommt aber der absolute Clou:

Es gibt in diesem Fall sogar eine Geschichte hinter der Geschichte hinter der Geschichte.

Alles, was ich oben referiert habe, war nämlich geklaut. Immerhin bei einem der Besten: bei Malcolm Gladwell. Dieser supersmarte dauerplaudernde Lockenkopf wurde weltberühmt durch einen TED-Talk über Spaghetti-Sauce. Und durch Bücher, mit denen er unsere Vorstellungen von dem, was wir über uns wissen, auf eine neue, nämlich wissenschaftlich fundierte, Grundlage gestellt hat. „Tipping Point“, „Blink“, „Outliers“ und/oder „Talking to Strangers“.

Es ist immer ein Gewinn und eine Freude, den Masterstoryteller bei seiner dekonstruktiven Arbeit zu beobachten.

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Robert Mattheis