„Aber diesmal ist er wirklich betrunken.“
Das war Rahims Antwort auf Nandos eher vergnügte, leichtfüßige Feststellung: Betrunken? Aber Mattheis sei doch immer betrunken!?
Überspringen wir im Rückwärtsgang eine Zeile (RAHIM: …), um direkt bei Nandos verdutzter Frage zu landen: „Warum soll die Lesung nicht stattfinden können?“
Mattheis war also betrunken, die Lyriklesung, die er großspurig per Rundschreiben angekündigt hatte, in Gefahr. Das legte Rahim überzeugend in wenigen Sätzen dar. Vielleicht war es der extra aus Bern angereiste Lektor, der Mattheis‘ Nerven in solche Vibrationen versetzt hatte, dass er sich schon am Nachmittag mit einer Flasche Rotwein und mehreren Bieren für das große Event gerüstet hatte. Wie auch immer: Es war ein Fall von Über-Rüstung. Eine Art alkoholischer Overkill. Jetzt lag der Poet auf drei Stühlen, die er im Besprechungsraum zusammengeschoben hatte, den Arm über die Augen gelegt, und murmelte: „Gott, ich bin so voll … Ich müsste kotzen, aber ich kann nicht … Ich bin so besoffen …“

Der Lektor saß auf einem Stuhl, etwas abseits, und blickte in einer Mischung aus Schock, Ekel und Depression auf den Boden zwischen seinen Füßen. Seinen Autor anzuschauen, wagte er nicht. Ohne Zweifel bereute er, den weiten Weg aus Bern angetreten zu haben, um jetzt hier Zeuge zu werden, wie ein lustig gedachtes Nürnberger Happening sich in eine Kakophonie von Katastrophen verwandelte.
Es sollte die Neuerfindung der Agentur werden, die Neuerfindung der Idee einer Agentur, einer Agentur für Nürnberg. Generell taten Agenturen sich schwer, in der Lebkuchenmetropole Fuß zu fassen. Sogar Serviceplan, sonst in der werblichen Missionsarbeit so rigoros erfolgreich wie einst die katholische Kirche, hatte es nicht vermocht, mehr als eine kleine, auf den Kunden DATEV spezialisierte Eingreiftruppe in der Nähe des Nürnberger Hauptbahnhofs anzusiedeln. Es gab natürlich Werbeklitschen, massenhaft, vielleicht gab es in Nürnbergs verwinkelten Gassen mehr Kleinagenturen als in jeder anderen Stadt Deutschlands, manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, jeder Nürnberger sei eine Miniwerbeagentur, unter jeder Dachschräge werde für Adidas designt, aber es gab in Franken einfach keine funktionierende großflächig vernetzte Werbebranche. Ob das an der aggressiven Spielart des Humors lag, die in Franken heimisch war? An der generellen Geringschätzung von Charme, Witz und Ironie? An der eingefleischten Vorstellung, Wurst und Bier seien der Gipfel der Kultur? An einer vertrutzten Bockigkeit gegenüber der globalen Gesellschaft?
Fest stand: Alles das, was das Leben des Geistes zu einem unterhaltsamen Ereignis macht, erfreute sich keiner großen Beliebtheit bei den Menschen zwischen Coburg und Weißenburg. Der normale Franke, dieses Eindrucks vermochte der unvoreingenommene Betrachter sich nur mit Mühe zu erwehren, verfügte über ein Gehirn, das auf Nullen und Einsen basierte. Ein Sinn für Zwischentöne hatte sich eher nicht entwickelt. Musste man auch noch bejubeln, dass die Dinge geschahen?

In diesem Sinne war der „Open Agency Day“, zu dem Nando und seine need-Mannen sich entschlossen hatten, eine notwendige, aber auch riskante Geschichte. Das Event sollte für die Branche eine Injektion von Unternehmenslust und Kooperationsfreude sein. Was war geplant? In einer spektakulären Vernissage würde ein Nachwuchskünstler von der Akademie seine Werke präsentieren. Eine Kunsthistorikerin würde in einem kurzen Vortrag eine ästhetische Einordnung der Ausstellung vornehmen. Im ersten Stock, im Besprechungsraum, in dem jetzt Mattheis und sein Lektor um Fassung rangen, waren Filmscreenings des Dietz’schen Kurzfilms „Loveloop“ vorgesehen, jeder Vorführung sollte sich ein Q&A mit dem Regisseur anschließen. Die Räumlichkeiten des need.universums sollten bieten: Getränke, Gespräche, Glückseligkeit. Ein Herein- und Hinausdriften von Passanten, Freunden, Interessierten war avisiert und anvisiert. Zwanglos und offen alles, fröhlich, entspannt, dem Leben zugewandt und von der Lebenskunst beseelt. Ein bisschen eine Businessatmosphäre wie auf dem Golfplatz, wo bekanntlich die besten Deals gemacht werden.
Passte eine Lyriklesung eigentlich in dieses Programm hinein? Na klar, hatte Rahim gemeint. Na, unbedingt, hatte Mattheis bestätigt. Na, meinetwegen, hatte Nando gesagt. Er hatte vorgeschlagen, für eine musikalische Untermalung der Gedichte zu sorgen. Mattheis, alarmiert, hatte das abgelehnt. Er war kurz davor gewesen, aufzuspringen und aus dem Fenster zu klettern. Nur gab es kein Fenster das er hätte öffnen können. Es gab nur zwei große Glasscheiben, die den Blick in den Agenturgroßraum eröffneten. Also blieb er sitzen.
Ein Videographer streifte durch die Festlichkeit, hielt die schönsten Momente auf Festplatte fest, wie die Menschen tranken, lachten, schwatzten – perfekt. Des Videographers Anwesenheit (es war ein junger Mitarbeiter von need.film, im Grunde waren es sogar zwei junge Mitarbeiter, die den ganzen Abend über unterwegs waren auf Impressionssafari) setzte der Festivität noch ein besonderes Glanzlicht auf. So wie ein Schiedsrichter zu einem Fußballspiel gehört, gehört ein Videographer zu einem geilen Event. Absoluter Clou: Wer sich online registriert hatte, bekam im Nachgang des „Open Agency Day“ einen Link zu dem Video zugespielt. Zu sehen war darauf unter anderem, wie Mattheis die enge Treppe vom ersten Stock herunterpurzelte. Er verletzte sich nicht. Im Gegenteil: Das durch den Sturz freigesetzte Adrenalin klärte den Kopf des Lyrikers so weit, dass er ein paar seiner Gedichte vortragen konnte. Bedauerlicherweise endete sein Vortrag in unschönen Pöbeleien mit dem Publikum, als er einige Anwesende als „Marketingfotzen“ attackierte.
Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, lautet unser Fazit zu dieser rundum gelungenen Veranstaltung: Mehr geht nicht!